Dr. Marco V. Benavides Sánchez
Nosokomiale Infektionen (Healthcare-Associated Infections, HAIs) stellen seit Langem eine erhebliche Belastung für die öffentlichen Gesundheitssysteme weltweit dar. Jedes Jahr infizieren sich Millionen von Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts, was zu verlängerten Aufenthalten, höheren Gesundheitskosten und einer erhöhten Sterblichkeitsrate führt (World Health Organization, 2011). Trotz technologischer Fortschritte und Maßnahmen zur Infektionskontrolle beruhen traditionelle Überwachungsmethoden nach wie vor stark auf manuellen Prozessen – mit der Folge von Unterberichterstattung und ineffizienter Ressourcennutzung. In den letzten Jahren hat sich die Künstliche Intelligenz (KI) als potenzieller Wendepunkt im Bereich der Infektionsüberwachung herauskristallisiert.
Eine neue Studie, veröffentlicht in Artificial Intelligence in Medicine von Cozzolino et al. (2025), überprüft systematisch die Wirksamkeit von KI-basierten Systemen zur Überwachung nosokomialer Infektionen. Die Ergebnisse zeigen ein hohes Potenzial, aber auch erhebliche Herausforderungen, bevor diese Systeme in der klinischen Praxis breit implementiert werden können.
Die Belastung durch HAIs und der Bedarf an Automatisierung
Trotz jahrzehntelanger Präventionsbemühungen bleiben nosokomiale Infektionen eine hartnäckige Herausforderung. Manuelle Überwachungsmethoden sind arbeitsintensiv und fehleranfällig, häufig durch begrenzte personelle Ressourcen und subjektive Einschätzungen eingeschränkt (Magill et al., 2014). Während Krankenhäuser versuchen, Patientenergebnisse zu verbessern und Betriebskosten zu senken, wird die Automatisierung dieser Aufgaben durch KI immer attraktiver.
KI kann große Mengen an Patientendaten verarbeiten, Muster erkennen und Infektionsrisiken wesentlich schneller vorhersagen als menschliche Kliniker. Besonders maschinelles Lernen zeigt großes Potenzial, komplexe, nichtlineare Zusammenhänge in Gesundheitsdaten zu identifizieren und somit HAIs zu erkennen (Shickel, Tighe, Bihorac & Rashidi, 2017).
Ergebnisse der systematischen Übersichtsarbeit
Cozzolino et al. (2025) analysierten im Rahmen ihrer systematischen Übersichtsarbeit 249 Studien von insgesamt 2834 Zitaten aus den Datenbanken Scopus und Embase unter Anwendung der PRISMA-Richtlinien. Ihr Protokoll wurde in PROSPERO registriert (CRD42024524497), was für Transparenz und methodische Strenge spricht.
Die zusammengefassten Leistungskennzahlen der KI-Modelle waren vielversprechend: Sensitivität 0,835, Spezifität 0,899, AUC 0,864 und Genauigkeit 0,880. Diese Werte deuten darauf hin, dass KI-gestützte Überwachungstools im Allgemeinen zuverlässig bei der Erkennung von HAIs sind, obwohl eine signifikante Heterogenität zwischen den verschiedenen Infektionstypen festgestellt wurde.
Etwa 35,7 % der Studien verglichen KI-Systeme mit herkömmlichen Methoden oder alternativen automatisierten Verfahren – in den meisten Fällen mit dem Ergebnis, dass KI entweder gleichwertig oder überlegen war. Dies steht im Einklang mit früherer Literatur, die das Potenzial von KI zur Unterstützung klinischer Entscheidungen unterstreicht (Rajkomar, Dean & Kohane, 2019).

Herausforderungen bei der Implementierung
Trotz der vielversprechenden Leistungskennzahlen ist die reale Anwendung von KI-Überwachungssystemen selten. Nur 30 der analysierten Studien setzten die KI-Modelle in benutzerfreundliche Tools um, und lediglich 9 Studien testeten diese in einer klinischen Umgebung.
Ein zentrales Hindernis ist der Mangel an Evidenz dafür, wie KI-basierte Überwachungssysteme tatsächlich Patientenoutcomes verbessern, den klinischen Arbeitsaufwand reduzieren oder Kosten senken. Weniger als 7,6 % der Studien untersuchten explizit diese Effekte. Obwohl viele von positiven Auswirkungen berichteten, erschwert die geringe Stichprobengröße und die uneinheitliche Methodik eindeutige Schlussfolgerungen.
Hinzu kommt das sogenannte „Black Box“-Problem: Die Entscheidungsfindung der KI-Modelle ist oft nicht transparent, was das Vertrauen des medizinischen Personals untergräbt – sie zögern, Systeme zu integrieren, deren Funktionsweise sie nicht vollständig verstehen (Tonekaboni, Joshi, McCradden & Goldenberg, 2019).
Der Bedarf an weiterer Forschung und Validierung
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass KI-basierte Überwachungssysteme zwar über ein starkes technisches Potenzial verfügen, ihre Integration in die klinische Praxis jedoch durch verschiedene Faktoren behindert wird: mangelnde Wirkungsnachweise, Probleme bei der Interpretierbarkeit, eingeschränkte Reproduzierbarkeit und benutzerunfreundliches Design.
Um die Kluft zwischen technischer Leistung und klinischem Nutzen zu überbrücken, sollte sich zukünftige Forschung auf folgende Bereiche konzentrieren:
- Wirkungsstudien: Es sind mehr Studien notwendig, die konkrete Auswirkungen auf Patientenergebnisse, Gesundheitskosten und Arbeitseffizienz untersuchen.
- Erklärbarkeit der Modelle: Die Entwicklung verständlicher KI-Systeme, denen Kliniker vertrauen können, ist entscheidend für eine breite Akzeptanz.
- Reproduzierbarkeit und Validierung: KI-Modelle müssen in unterschiedlichen Versorgungsumgebungen und Patientengruppen validiert werden, um ihre Generalisierbarkeit zu gewährleisten.
- Benutzerfreundlichkeit: Die Systeme müssen intuitiv in bestehende klinische Arbeitsabläufe integriert werden.
Frühere Übersichtsarbeiten unterstützen diese Forderungen und betonen, dass der Erfolg von KI nicht nur von der technischen Leistung, sondern auch von menschlichen, organisatorischen und regulatorischen Faktoren abhängt (He, Baxter, Xu, Xu & Zhou, 2019).
Eine vielversprechende, aber vorsichtige Zukunft
Der Weg zur routinemäßigen Nutzung von KI in der HAI-Überwachung ist zwar vielversprechend, aber auch mit Herausforderungen behaftet. Cozzolino et al. (2025) betonen, dass trotz mehr als eines Jahrzehnts Forschung die reale Wirkung von KI auf die Infektionskontrolle bisher kaum erforscht wurde. Ohne belastbare Beweise für eine Verbesserung der Patientenversorgung oder Kosteneinsparungen könnten KI-Systeme als elegante, aber unpraktische Lösungen angesehen werden.
Dennoch ist die Tendenz ermutigend. Institutionen, die KI-Tools zur Infektionsüberwachung pilotiert haben, berichten oft von positiven Ergebnissen. So zeigte eine Studie von Klompas et al. (2016), dass automatisierte Überwachungssysteme bei der Erkennung von beatmungsassoziierten Ereignissen manuelle Aktenprüfungen übertreffen konnten – sowohl hinsichtlich des Aufwands als auch der Geschwindigkeit.
Mit fortlaufender Forschung, verbesserter Modellgestaltung und einem stärkeren Fokus auf praktische klinische Bedürfnisse könnten KI-Überwachungssysteme in den nächsten zehn Jahren zu unverzichtbaren Bestandteilen der Infektionskontrolle werden.

Fazit
Nosokomiale Infektionen stellen weltweit eine große Herausforderung für Gesundheitssysteme dar. KI bietet großes Potenzial, die mühsame Aufgabe der HAI-Überwachung effizienter, präziser und skalierbarer zu gestalten. Doch wie die systematische Übersichtsarbeit von Cozzolino et al. (2025) zeigt, reicht es nicht aus, leistungsstarke Algorithmen zu entwickeln. Es braucht robuste Realwelt-Validierung, nachweisbaren klinischen Nutzen, bessere Interpretierbarkeit und eine durchdachte Integration in die klinischen Abläufe.
Kurz gesagt: KI-basierte HAI-Überwachungssysteme sind noch nicht vollständig bereit für die breite klinische Anwendung – aber das Fundament ist gelegt. Mit gezielten Anstrengungen zur Schließung der bestehenden Lücken könnte KI schon bald ein verlässlicher Partner im globalen Kampf gegen Krankenhausinfektionen werden.
Referenzen
– Cozzolino, C., Mao, S., Bassan, F., Bilato, L., Compagno, L., Salvò, V., Chiusaroli, L., Cocchio, S., & Baldo, V. (2025). Are AI-based surveillance systems for healthcare-associated infections ready for clinical practice? A systematic review and meta-analysis. Artificial Intelligence in Medicine, 103137. https://doi.org/10.1016/j.artmed.2025.103137
– He, J., Baxter, S. L., Xu, J., Xu, J., & Zhou, X. (2019). The practical implementation of artificial intelligence technologies in medicine. Nature Medicine, 25(1), 30-36. https://doi.org/10.1038/s41591-018-0307-0
– Klompas, M., Kleinman, K., Platt, R. (2016). Development of an algorithm to detect ventilator-associated events. Clinical Infectious Diseases, 52(5), 750-756. https://doi.org/10.1093/cid/ciq150
– Magill, S. S., Edwards, J. R., Bamberg, W., Beldavs, Z. G., Dumyati, G., Kainer, M. A., … & Fridkin, S. K. (2014). Multistate point-prevalence survey of health care–associated infections. New England Journal of Medicine, 370(13), 1198-1208. https://doi.org/10.1056/NEJMoa1306801
– Rajkomar, A., Dean, J., & Kohane, I. (2019). Machine learning in medicine. New England Journal of Medicine, 380(14), 1347-1358. https://doi.org/10.1056/NEJMra1814259
– Shickel, B., Tighe, P. J., Bihorac, A., & Rashidi, P. (2017). Deep EHR: A survey of recent advances in deep learning techniques for electronic health record (EHR) analysis. IEEE Journal of Biomedical and Health Informatics, 22(5), 1589-1604. https://doi.org/10.1109/JBHI.2017.2767063
– Tonekaboni, S., Joshi, S., McCradden, M. D., & Goldenberg, A. (2019). What clinicians want: Contextualizing explainable machine learning for clinical end use. Proceedings of Machine Learning Research, 106, 359-380.
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